Autofahren im Alter ist ein sensibles Thema – auch zwischen Ärzten und ihren Patienten. Die Aufrechterhaltung von Mobilität ist gerade für alte und allein lebende Menschen nicht nur eine angenehme Freizeitgestaltung. Vielmehr gewährleistet das eigene Auto in vielen Fällen die einzig verbliebene Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit anderen Einrichtungen und anderen Menschen, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an kulturellen Ereignissen und die Wahrnehmung einer optimalen medizinischen Versorgung. Dennoch ist die Quote von ver-schuldeten Unfallbeteiligungen aufgrund altersbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen – jedenfalls gefühlt – sehr hoch. In Deutschland gilt die Fahrerlaubnis altersmäßig unbe-schränkt. Es gibt keinen verpflichtenden Fahrtauglichkeitstest ab einem bestimmten Alter oder gar eine Regelung, wonach die Fahr¬erlaubnis zunächst bis zu einem Alter von 70 Jah-ren gilt und dann zu ihrer Verlängerung eine ärztliche Untersuchung absolviert werden muss, so wie es in einigen anderen europäi¬schen Ländern der Fall ist. In Deutschland kann daher ein älterer Verkehrsteilnehmer nur aufgrund konkreten Fehlverhaltens im Straßenverkehr seinen Führerschein verlieren – so wie bei allen anderen Straßenverkehrsteilnehmern auch. Befürworter der altersmäßig unbeschränkten Fahrerlaubnis glauben, dass eine starre Alters-grenze zu einer Stigmatisierung der betreffenden Altersgruppe führen könnte.
Tatsächlich können weder das Alter an sich, noch beispielsweise das Tragen eines Hörgeräts per se die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigen. Das Alter oder eine vorhandene Hörminderung können auch kein Indikator dafür sein, dass andere schwerwiegende gesundheitliche Mängel vorliegen. Dies zeigt eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Neustadt an der Weinstraße. In dem betreffenden Fall hatte die Fahrerlaubnisbehörde der Stadt Lud-wigshafen einem 85-jährigen Mann zu Unrecht die Fahrerlaubnis entzogen, nach¬dem dieser sich geweigert hatte, der Begutachtungsstelle für Fahreignung ein ärztliches Gutachten beizubringen (Beschluss vom 28.01.2016 - 3 L 4/16.NW).
Zum Sachverhalt
Der zum damaligen Zeitpunkt 85-jährige Antragsteller beantragte im Juli 2015 die Umstel¬lung seiner 1962 erworbenen Fahrerlaubnis in die neuen Führerscheinklassen. Bei diesem Termin stellte eine Mitarbeiterin der Fahrerlaubnisbehörde fest, dass der Antragsteller ein Hörgerät trug, weshalb sie ihn zur Vorlage eines ärztlichen Attestes zu seinem Hörvermögen aufforder-te. Daraufhin legte der Antragsteller ein solches Attest seines behandelnden HNO-Arztes vor. Daraus ging hervor, dass der Antragsteller aufgrund des Hörgeräts ein alters¬normales Hör-vermögen erreicht und Beeinträchtigungen im Straßenverkehr nicht zu erwar¬ten sind. Diese HNO-ärztliche Bescheinigung reichte der Mitarbeiterin der Fahrerlaubnisbehörde allerdings nicht aus; sie verlangte eine Ergänzung des Attests um die Angabe des prozentualen Hörver-lusts. Dementsprechend legte der Antragsteller ein weiteres Attest seines HNO-Arztes vor, wonach der Hörverlust 56% des rechten und 100% des linken Hörvermögens betrug. Nach Abschluss der hörprothetischen Versorgung würden eine normale Diskrimination und ein al-tersnormales Hörvermögen erreicht. Beeinträchtigungen im Straßenverkehr seien nicht zu erwarten.
Die Mitarbeiterin der Fahrerlaubnisbehörde ordnete trotz der zwei vorgelegten HNO-ärztlichen Bescheinigungen zum Hörvermögen des Antragstellers auch noch die Beibringung eines Gutachtens durch einen Arzt der Begutachtungsstelle für Fahreignung an. Da der An-tragsteller dieses Gutachten nicht binnen der gesetzten Frist vorlegte, wurde ihm kurzerhand die Fahrerlaubnis entzogen. Zur Begründung führte die Fahrerlaubnisbehörde aus, dass auf-grund seiner Hörminderung und der Nichtbeibringung des ärztlichen Gutachtens von seiner Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen auszugehen sei. Hiergegen wandte sich der Hörgeräteträger im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens beim zuständigen Verwaltungsgericht (VG) mit Erfolg.
Die Entscheidung
Das VG entschied, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis offensichtlich rechtswidrig gewe-sen sei. Die Fahrerlaubnisentziehung wäre nur dann zulässig gewesen, wenn sich der An-tragsteller als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erweisen hätte. Diese Vorausset-zung war nach Ansicht des Gerichts jedoch offensichtlich nicht erfüllt. Das Gericht stellte fest, dass die Fahrerlaubnisbehörde aus der Nichtvorlage des geforderten Gutachtens nicht automatisch auf die Nichteignung des Antragstellers hätte schließen dürfen. Eine solche Schlussfolgerung sei nämlich nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens recht-mäßig erfolgte. Dies müsse im vorliegenden Fall jedoch verneint werde.
Nach § 46 Abs. 3 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) kann ein Gutachten nur dann ange-fordert werden, wenn tatsächliche Hinweise vorliegen, die Bedenken an der Kraftfahreignung des Betroffenen begründen. Im Fall des Antragsstellers hätten derartige Hinweise aber nicht bestanden. Allein die HNO-ärztlich attestierte Schwerhörigkeit sei kein Grund für die Anord-nung des Gutachtens gewesen. Die Kraftfahreignung bestehe laut der FeV ausdrücklich auch bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit (Hörverlust von 60% und mehr) und entfalle erst dann, wenn gleichzeitig andere schwerwiegende Mängel (z.B. Sehstörungen, Gleichge-wichtsstörungen) vorlägen. Da durch eine vorhandene Hörminderung eine Steigerung ande-rer sensorischer Leistungen erreicht werden könne, seien hörgeminderte oder gehörlose Fah-rer in der Lage, durch besondere Umsicht, Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit si¬cher am Straßenverkehr teilzunehmen.
Das VG betonte zudem, dass beim Antragsteller ausweislich der vorgelegten Bescheinigun-gen des HNO-Arztes durch die hörprothetische Versorgung eine normale Diskrimination und ein altersnormales Hörvermögen erreicht seien. Dass neben der fachärztlich attestierten Be-einträchtigung der Hörleistung gleichzeitig andere schwerwiegende gesundheitliche Mängel vorlägen, sei nicht ersichtlich. Es liege daher nahe, dass die Fahrerlaubnisbehörde allein auf Grund des Alters des Antragstellers eine weitere Untersuchung angeordnet habe.
Der Beschluss des VG veranschaulicht, dass das Tragen eines Hörgerätes bzw. selbst eine hochgradige Schwerhörigkeit oder gar Gehörlosigkeit allein nicht zum Verlust des Führer-scheins führen kann. Zugleich wird deutlich, dass sich die Fahreignung nicht an einer starren Altersgrenze bemessen lässt, sondern durchaus auch hoch betagte Personen zum Führen eines Kraftfahrzeugs geeignet sein können.
Anmerkungen
Auch der behandelnde HNO-Arzt muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob der von ihm be¬treute Patient in der Lage ist, ein Kraftfahrzeug sicher im Straßenverkehr zu führen. Die generelle Fahreignung ist dabei zu unterscheiden von der Fahrtüchtigkeit, welche die aktuelle und si¬tuative Fähigkeit bezeichnet, ein Fahrzeug mit der jeweils erforderlichen Auf-merksamkeit und Sicherheit im Straßenverkehr zu führen. Während der Arzt einen Patien-ten, der nach seiner Einschätzung eigentlich nicht mehr die erforderliche Fahreignung auf-weist, nicht zur Heraus¬gabe seines Führerscheins an die Fahrerlaubnisbehörde zwingen kann, muss er ihn über eine etwaige Fahruntüchtigkeit oder zumindest der Möglichkeit ihrer Herabsetzung unbedingt aufklären. Dies selbst dann, wenn im speziellen Einzelfall die Ver-kehrstüchtigkeit eine selte¬ne Nebenwirkung und damit nur ein geringes Risiko darstellt.
Häufige Ursache für eine – vorübergehende – Verkehrsuntüchtigkeit ist die Sedierung bei ambulanten Operationen. In diesen Fällen trifft den behandelnden Arzt eine gesteigerte Auf-klärungspflicht, wenn ihm bekannt ist, dass der Patient im Anschluss an die Behandlung am Straßenverkehr teilnehmen möchte. Aufgrund der Beeinträchtigung der Wahrnehmungs-, Reaktions- und Koordinationsfähigkeit muss die sog. Sicherungsaufklärung im Vorfeld der Behandlung den expliziten Hinweis enthalten, dass der Patient nach dem Eingriff für einen bestimmten Zeitraum nicht in der Lage sein wird, am Straßenverkehr teilzunehmen und er dafür Sorge zu tragen hat, dass er postoperativ entweder von Angehörigen abgeholt wird oder mit einem Taxi nach Hause fährt. Stellt der Arzt nach dem Eingriff fest, dass der Patient offensichtlich leichtfertig den ärztlichen Rat ignoriert und im Begriff ist, am Straßenverkehr teilzunehmen, so hat er ihn erneut eindringlich auf seine herabgesetzte Verkehrstauglichkeit hinzuweisen und an seine Vernunft zu appellieren. Ist erkennbar, dass sich der Patient nicht an die Anweisungen seines Arztes hält, kann auch im Einzelfall eine Information der Stra-ßenverkehrsbehörde oder der Polizei zulässig und geboten sein. Eine detaillierte Dokumenta-tion über die Warnhinweise an den Patienten darf nicht fehlen.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Fall der erfolgten Meldung an die Behörden zwar die vollendete Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht als erfüllt angesehen, diese jedoch aus Notstandsgesichtspunkten (§ 34 StGB) für gerechtfertigt gehalten. Allerdings muss der Arzt insoweit die Mitteilung an die Behörden knapp fassen und darf lediglich die die Fahrun-tauglichkeit begründende Diagnose sowie die Angabe, dass aus ärztlicher Sicht Zweifel an der Fahrtüchtigkeit bestehen, weiterleiten. Eine komplette Darstellung der Krankengeschichte ist hingegen aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht und des Datenschutzes nicht zulässig.
Auch die Einnahme bestimmter Medikamente kann zu einer Verkehrsuntüchtigkeit des Pati-enten führen. Werden die Medikamente über einen längeren Zeitraum hinweg eingenom¬men, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Patient während dieser Zeit in irgend¬einer Form am Straßenverkehr teilnehmen wird. Keinesfalls darf sich der Arzt in diesem Fall da-rauf verlassen, dass der Patient den Hinweis auf dem Beipackzettel lesen wird. Vielmehr muss er durch gezieltes Nachfragen beim Patienten klären, ob dieser in dem Zeitraum, in dem Beeinträchtigungen zu erwarten sind, in irgendeiner Form am Straßenverkehr teilneh-men wird und ihn bei Bejahung der Frage entsprechend aufklären. Die Aufklärung sollte in jedem Fall in der Patientenkartei entsprechend dokumentiert und bestenfalls vom Patienten gegengezeichnet werden.
Im Bereich der Medikamentengabe wird zwar durch die Regelung des § 24 a Abs. 2 Satz 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG) das Führen eines Kraftfahrzeuges nach bestimmungsgemä-ßer Einnahme von THC, Morphin, Cocain, Benzoylecgonin, Amfetamin, MDA, MDE, MDMA oder Metamfetamin von der Ordnungswidrigkeit ausgenommen. Allerdings greift dies nicht, wenn zuvor ärztlicherseits darüber aufgeklärt wurde, dass aufgrund der Dosierung nach Me-dikamenteneinnahme keine Fahrtüchtigkeit mehr besteht.
Die Problematik der (vorübergehend) eingeschränkten Fahruntauglichkeit des Patienten und die dabei entstehende Konfliktsituation des behandelnden Arztes zeigt sich auch instruktiv am Beispiel einer heftig umstrittenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH). In seinem Urteil vom 8. April 2003 (Az.: VI ZR 265/02) hat sich der BGH näher mit den Pflichten eines Arztes zur Überwachung eines nach einer ambulanten Magenspiegelung fahruntauglichen Patienten beschäftigt. Der Patient war zwar vor dem Eingriff darüber aufgeklärt worden, dass er danach fahruntüchtig sei und hatte daraufhin angegeben, nach der Prozedur mit dem Taxi nach Hause fahren zu wollen. Er hatte sich dann aber 2,5 Stunden nach dem Eingriff, ohne zuvor entlassen worden zu sein, eigenmächtig aus dem Krankenhaus entfernt und war nach einem Unfall mit seinem Pkw auf dem Heimweg unfallbedingt verstorben. Während die Vo-rinstanzen den beklagten Chefarzt und den Krankenhausträger von einer Haftung freispra-chen, sah der BGH hier die postoperativen Überwachungspflichten verletzt. Man hätte si-cherstellen müssen, dass es dem Patienten nicht möglich sei, sich bereits vor der ärztlich veranlassten Entlassung aus dem Krankenhaus zu entfernen. Insbesondere, da bekannt ge-wesen sei, dass der Patient das Krankenhaus ohne Begleitung und mit dem eigenen Pkw aufgesucht hatte und die verabreichten sedierenden Medikamente eine temporäre Amnesie sowie Bewusstseinstrübung mit Einschränkung der Einsichtsfähigkeit auslösen konnten, hätte der Patient in einem dauerhaft überwachten Raum untergebracht werden müssen. Die Un-terbringung im Flur ohne ständige Aufsicht sei nicht ausreichend gewesen.
Der Fall zeigt, dass nicht nur die ordnungsgemäße Aufklärung vor einem Eingriff, sondern auch die spätere Überwachung zur Abwendung negativer Haftungsfolgen für die Ärzte aus-schlagegebend sein können. Bei alten schwerhörigen Patienten begründet die Schwerhörig-keit selbst in den meisten Fällen keinen Grund zur Entziehung der Fahrerlaubnis. Nur bei wei-teren bewusstseinsbeschränkenden Erkrankungen muss es zu einem Abwägungsprozess kommen, der die Gefahren für das eigene Leib und Leben und die Gefahren für Dritte mit dem Gebot der Mobilität ins Verhältnis stellt.
Köln, im April 2023
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