Zum Beweiswert digitalisierter Patientenakten
Die Digitalisierung schreitet mit großen Schritten voran und macht auch vor Ärzten* in Klinik und Praxis nicht Halt. Telematik und Telemedizin gewinnen im Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung. Und die elektronische Dokumentation löst immer mehr die herkömmliche handschriftliche Patientenkartei ab. Für Klinikträger, Praxisinhaber und das medizinische Personal stellen sich im Zuge dessen neben technischen Umsetzungsproblemen und Finanzierungsfragen auch immer wieder rechtliche Fragen. Was Ärzte im Zusammenhang mit der Dokumentation in elektronischer Form zu beachten haben und welche prozessualen Besonderheiten sich hieraus ergeben, damit hat sich zuletzt der Bundesgerichtshof (BGH) in einem aktuellen Urteil vom 27.04.2021 – Az. VI ZR 84/19 – auseinandergesetzt.
Der Fall
In dem der Entscheidung zugrunde liegende Fall war der Patient bei einer Fachärztin für Augenheilkunde wegen plötzlich aufgetretener schwarzer Flecken im linken Auge in Behandlung. Es sollte dort eine Untersuchung unter Pupillenerweiterung erfolgen. Diese Untersuchung fand auch statt – ob dabei jedoch auch die Pupillenerweiterung durchgeführt wurde, war streitig. Die Augenärztin erklärte dem Patienten im Anschluss an die Untersuchung, dass es sich bei den Beschwerden um eine altersbedingte Erscheinung infolge einer Glaskörpertrübung handele. Weitergehende Therapieschritte oder eine Wiedervorstellung wurden deshalb nicht vereinbart. Später wurde bei dem Patienten bei einem Sehtest ein Netzhautriss und später eine Netzhautablösung festgestellt, eine Operation schloss sich an. In der Folge traten Komplikationen auf, der Patient erblindete auf dem linken Auge.
Der Patient erhob sodann gegen die behandelnde Augenärztin Klage und forderte Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung. Er sei nach der Behandlung nicht auf die Notwendigkeit einer Kontrolluntersuchung hingewiesen worden. Außerdem sei bei der Untersuchung die Pupillenerweiterung nicht erfolgt. Im gerichtlichen Verfahren wurde auch die elektronische Patientenakte vorgelegt. Diese war mit einer Software erstellt, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar macht. Aus der Dokumentation ergab sich, dass bei dem Patienten eine Untersuchung unter Pupillenerweiterung durchgeführt worden war. Eine Dokumentation zu dem Umstand, ob die Ärztin im Anschluss eine Kontrolluntersuchung empfohlen hatte, fehlte hingegen.
Die Klage blieb in erster und zweiter Instanz ohne Erfolg. Der Patient zog deshalb vor den BGH. Dort wurde der Revision des Patienten stattgegeben und die Angelegenheit an das Oberlandesgericht Oldenburg zur Entscheidung zurückverwiesen.
Keine Dokumentation der therapeutischen Information
Der BGH kam zunächst zu dem Ergebnis, dass die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Augenärztin sei kein Behandlungsfehler wegen einer unterlassenen therapeutischen Information des Patienten vorzuwerfen, nicht zu beanstanden sei. Es sei zutreffend, dass die Ärztin den Patienten auf die Notwendigkeit einer nachgehenden Kontrolluntersuchung hätte hinweisen müssen. Allerdings hätte der für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers beweisbelastete Patient nachweisen müssen, dass diese Information unterblieben sei. Diesen Beweis sei er jedoch schuldig geblieben. Klarstellend wies der Senat darauf hin, dass zugunsten des Patienten auch keine Beweislastumkehr greife. Eine solche ergebe sich insbesondere nicht aus dem Umstand, dass die Information des Patienten nicht in der (elektronischen) Patientenakte dokumentiert sei. Nach § 630h Abs. 3 BGB werde lediglich vermutet, dass die im Gesetz ausdrücklich benannten dokumentationspflichtigen Maßnahmen und Ergebnisse (wie z.B. Anamnese, Untersuchungen und Aufklärungen) als nicht durchgeführt gelten, wenn diese nicht dokumentiert wurden. Dokumentationspflichtig als „Aufklärung“ sei allein die sog. Selbstbestimmungsaufklärung des § 630e BGB, etwa zur Durchführung und zu den Risiken des Eingriffs, nicht aber die therapeutische Aufklärung nach § 630c Abs. 2 S. 1 BGB.
Die Dokumentation der Information des Klägers zur Notwendigkeit einer Kontrolluntersuchung sei auch im Übrigen nicht notwendig gewesen. Die Dokumentation diene in erster Linie der Sicherstellung wesentlicher medizinischer Daten und Fakten für den Behandlungsverlauf und damit der Therapiesicherung. Außerdem solle die Dokumentation gewährleisten, dass der Arzt seiner Rechenschaftspflicht genüge, die sich aufgrund des Kenntnisvorsprungs gegenüber dem Patienten vor allem als Informationspflicht darstelle. Hinsichtlich der Umfangs der Dokumentation seien diejenigen für die Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, die aus fachlicher Sicht des behandelnden Arztes für die Sicherstellung der derzeitigen oder einer künftigen Behandlung wesentlich seien oder sein könnten. Damit seien solche Maßnahmen und Ergebnisse gemeint, deren Aufzeichnung geboten sei, um Ärzte und Pflegepersonal über den Verlauf und die Krankheit und die bisherige Behandlung für ihre künftigen Entscheidung ausreichend zu informieren. Ohne ein medizinisches Erfordernis sei eine Dokumentation nicht erforderlich – insbesondere auch nicht aus Rechtsgründen.
Elektronische Dokumentation mittels Software
Der BGH beanstandete aber die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Ärztin sei kein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Das Oberlandesgericht hatte noch angenommen, die Untersuchung des Augenhintergrunds sei unter Weitstellung der Pupillen erfolgt, da dies so dokumentiert sei und maß der Dokumentation eine positive Indizwirkung bei. Dies rügte der Patient mit Erfolg. Das Gericht habe nämlich nicht berücksichtigt, dass die Dokumentation mittels einer Software erstellt worden sei, die nachträgliche Änderungen nicht kenntlich mache – auch wenn seitens des Patienten eine nachträgliche Manipulation nicht gerügt worden sei.
Bis zum Inkrafttreten des Patientenrechtgesetzes im Jahre 2013 sei auch einer solchen Software der volle Beweiswert eingeräumt worden, sofern die Dokumentation medizinisch plausibel war und der Arzt nachvollziehbar darlegte, keine Änderungen vorgenommen zu haben. Mittlerweile müsse sich die Dokumentation jedoch an den Anforderungen des § 630f BGB messen lassen. Abs. 1 S. 2 und 3 BGB lauten:
„Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen.“
Eine elektronische Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar mache, habe daher nach Ansicht des BGH keinen vollen Beweiswert. Sie rechtfertige nicht den ausreichend sicheren Schluss, die dokumentierte Maßnahme sei tatsächlich erfolgt. Ziel dieser Regelungen sei es, eine fälschungssichere Organisation der Dokumentation sicherzustellen.
Eine elektronische Dokumentation, die nachträglich Änderungen nicht erkennbar mache, bleibe jedoch nicht gänzlich unberücksichtigt. Die Richter müssten den Inhalt der Dokumentation würdigen – angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit aber auch mit der erforderlichen Kritik und Vorsicht.
Fazit und Praxistipp
Die saubere Dokumentation der ärztlichen Behandlung wird oft als lästig und bürokratisch empfunden. Die Mediziner beklagt immer häufiger mehr am Schreibtisch als am Patienten zu arbeiten. Die Dokumentation ist und bleibt jedoch sowohl für die Behandlung selbst als auch für einen etwaigen Arzthaftungsprozess von entscheidender Bedeutung und sollte daher im eigenen Interesse nicht vernachlässigt werden.
Die Dokumentation der Behandlung kann sowohl in handschriftlicher als auch in elektronischer Form erfolgen und auch in einen Arzthaftungsprozess eingeführt werden. Der konkrete Beweiswert einer elektronischen Patientenakte unterliegt der freien Beweiswürdigung durch die Richter. Sollte die für das Praxisverwaltungssystem verwendete Software nachträgliche Änderungen nicht kenntlich machen, darf der Inhalt der Dokumentation zwar berücksichtigt werden. Sie muss jedoch besonders kritisch gewürdigt werden und es darf ihr aufgrund der fehlenden Veränderungssicherheit keine positive Indizwirkung zukommen.
Wer bei der Patientenakte mit der Zeit geht und bereits auf die elektronische Form umgestiegen ist, sollte vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entscheidung sicherstellen, dass die eingesetzte Software nachträgliche Änderungen immer kenntlich macht. Nur dann kann die Dokumentation im Falle eines Arzthaftungsprozesses als Beweismittel positive Indizwirkung entfalten.
Auf die naheliegende Frage, welche Software den rechtlichen Anforderungen genügt und technisch – nicht nur im Hinblick auf die technische Ausgestaltung einer Kenntlichmachung nachträglicher Änderungen in der Patientenakte – nicht zu beanstanden ist, gibt der BGH (leider, aber auch erwartungsgemäß) keine Antwort. Es bleibt somit offen, welche Software oder welches Softwarezertifikat alle Anforderungen tatsächlich erfüllt.
Die Bundesärztekammer (BÄK) schlägt in ihren „Hinweisen und Empfehlungen zur ärztlichen Schweigepflicht, Datenschutz und Datenverarbeitung in der Arztpraxis“ vom 09.03.2018 vor, man solle sich beim Erwerb einer Software vom Hersteller schriftlich bestätigen lassen, dass die Software die Anforderungen des § 630f BGB erfülle. Ein solches Vorgehen ist gewiss nicht verkehrt, beantwortet jedoch nicht die Fragen der technischen Ausgestaltung. Diese Fragen klärt auch nicht die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Die KBV benennt auf ihrer Homepage von ihr „zertifizierte“ Praxisverwaltungssysteme. Allerdings legt diese Zertifizierung das Augenmerk auf die korrekte Übermittlung von Daten des Vertragsarztes an die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung und die korrekte Formularbedruckung. Details zu den technischen Anforderungen an die Software – insbesondere zu der technischen Ausgestaltung einer Kenntlichmachung nachträglicher Änderungen in der Patientenakte – können aus einer Zertifizierung durch die KBV also nicht abgeleitet werden.
Es bleibt abzuwarten, ob sich der Gesetzgeber oder die Rechtsprechung in diesem Zusammenhang zu konkreteren Vorgaben im Interesse der Rechtssicherheit der Softwareanwender hinreißen lassen. Bis dahin ist allen (Vertrags-)Ärzten zu empfehlen, die eingesetzte Software auf die Funktion der Kenntlichmachung nachträglicher Änderungen in der Patientenakte zu überprüfen und sich dies ggf. auch vom Softwarehersteller schriftlich bestätigen zu lassen.
* In diesem Beitrag wird ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit allein die männliche Form verwendet; gemeint sind Personen jeden Geschlechts (m/w/d).
Köln im August 2021
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